
Harte Debatte in Koalition über Reform des Sozialstaats

In der schwarz-roten Koalition zeichnen sich harte Konflikte über die geplanten Sozialreformen ab. Juso-Chef Philipp Türmer erklärte Sozialkürzungen zur roten Linie für die SPD und betonte, dass die Bürgergeldreform eine Gewissensfrage für die Abgeordneten darstellen könne. CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann verlangte hingegen einen "Paradigmenwechsel" beim Bürgergeld: Das Land stehe mit dem Rücken zur Wand, "weil der Sozialstaat nicht mehr finanzierbar geworden ist", sagte er der "Neuen Osnabrücker Zeitung" vom Samstag.
Die Koalition aus Union und SPD hat sich grundlegende Reformen der Sozialversicherungssysteme vorgenommen - etwa bei Bürgergeld, Rente und Krankenversicherungen. Hintergrund sind steigende Kosten und die Engpässe im Bundeshaushalt. Ziel soll sein, den Sozialstaat bezahlbar zu halten. Konkrete Vorschläge sollen in Fachkommissionen ausgearbeitet werden.
Juso-Chef Türmer drohte in der "Stuttgarter Zeitung" und den "Stuttgarter Nachrichten" allerdings mit Widerstand: "Wenn die Idee hinter einem Herbst der Reformen Sozial- und Leistungskürzungen sind, kann ich nur klipp und klar sagen: Die SPD darf da keinen Zentimeter mitgehen", sagte er. "Eine Verringerung des Leistungsniveaus in der Krankenversicherung oder auch in der Rente sind rote Linien für die SPD."
Auch bei der Reform des Bürgergeldes gelte: "Jeder Abgeordnete sollte gut prüfen, welcher Änderung er zustimmen kann", sagte der Juso-Chef. "Die Gewissensfreiheit der Abgeordneten gilt auch bei sozialen Themen", sagte Türmer - und deutete damit mögliche Nein-Stimmen der SPD im Bundestag an.
CDU-Generalsekretär Linnemann rief hingegen einen "Herbst der Reformen" aus und warnte vor halbherzigen Bemühungen: Es gehe darum, "ob Politik überhaupt noch reformfähig ist", sagte er der "Neuen Osnabrücker Zeitung".
Gerade für die Auszahlung des Bürgergelds seien strengere Regeln nötig, um Missbrauch zu vermeiden. Das Sozialsystem sei "für Menschen da, die unsere volle Unterstützung wirklich brauchen", sagte Linnemann. "Aber wir erleben, dass es zu einfach ist, es auszunutzen. Und das müssen wir abstellen."
Der CDU-Politiker erläuterte: "Wenn jemand wiederholt eine zumutbare Arbeit nicht annimmt, dann muss der Staat davon ausgehen, dass er nicht bedürftig ist. Entsprechend darf er dann keine Hilfe mehr bekommen."
SPD-Chef Lars Klingbeil warb für die Reformen - und warnte zugleich vor Ungerechtigkeit. "Wir brauchen Strukturreformen, um die Beiträge dauerhaft stabil zu halten", sagte Klingbeil den Funke-Zeitungen vom Samstag. "Dabei erwarte ich von allen Verantwortlichen mehr Phantasie als einfach nur Leistungskürzungen für die Arbeitnehmer." Bei allen Reformen müsse gelten: "Wir bleiben ein Land, das Menschen hilft, die in Not geraten, die krank werden und Hilfe brauchen."
Der Sozialverband VdK warnte vor harten Einschnitten beim Sozialstaat und forderte, die Vermögenden mehr in die Pflicht zu nehmen. Wer wirklich gerecht handeln wolle, müsse die Einnahmeseite in den Blick nehmen. "Die Zahl der Millionäre und Milliardäre in Deutschland steigt Jahr für Jahr, ohne dass sie ihren gerechten Anteil an der Finanzierung unseres Gemeinwesens leisten", sagte Bentele gegenüber der "Rheinischen Post".
Ähnlich argumentierte der rheinland-pfälzische Ministerpräsident Alexander Schweitzer, der eine stärkere Belastung von "Superreichen" forderte. Ihm gehe es dabei um "Multi-Millionäre und Milliardäre", sagte Schweitzer dem Berliner "Tagesspiegel". "Diese stärker zu fordern, sollte politischer Konsens sein, auch zwischen SPD und CDU/CSU." Die Union lehnt Steuererhöhunghen bislang aber ab.
Der Vorsitzende der Unions-Nachwuchsorganisation Junge Union, Johannes Winkel, warnte die Koalition angesichts der Rekordschulden vor einer Überlastung der jüngeren Generationen. "Die Neuverschuldung in den kommenden sechs Jahren ist so hoch wie die Gesamtsumme der Schulden in den vergangenen 60 Jahren", sagte der den RND-Zeitungen vom Samstag. Es mache einen "hilflosen Eindruck", wenn Finanzminister Klingbeil nach Steuererhöhungen rufe, "ohne an den morschen Strukturen des Staates und unseres Sozialsystems etwas ändern zu wollen", kritisierte Winkel.
Einen ähnlichen Ton schlug der "Wirtschaftsweise" Martin Werding an, der die Ausgestaltung der deutschen Sozialsysteme als unfair gegenüber den jüngeren Generationen kritisierte. Die Alterung der Bevölkerung verursache gewaltige Kosten bei Rente, Pflege und Gesundheitsversorgung - bislang würden diese aber einseitig den Jungen aufgeladen, sagte Werding dem "Spiegel". Das widerspreche dem klassischen Konzept eines Generationenvertrags: "So wie er derzeit ausgestaltet ist, erinnert er eher an einen Knebelvertrag."
E.Nieto--HdM